
Ein Junge im Exil
Ein Junge im Exil - Jesus in Ägypten
Eine Trilogie über Gottes Sohn - Erschienen in "Für Dich" 9-11/2016
Jesus und der Dornbuch
Die Haustüre knarzte dumpf. Das tat sie immer, wenn man sie öffnete. So früh am Tage sollte Josef nicht zurück sein. Maria stampfte gerade ein paar Körner. "Du bist schon zurück? Ist etwas passiert?", fragte sie besorgt. "Ich habe heute keine Arbeit gefunden. Diese Sprache macht mich irre. Ich verstehe immer zu spät, was getan werden muss." Enttäuscht ließ sich Josef auf den Boden sinken.
"Wir hätten das Geld so dringend gebraucht. Wir haben nichts mehr zu essen. Es wird Zeit, dass wir endlich wieder nach Hause ziehen. Hier finden wir nicht unser Glück", seufzte Josef.
Es war nun sechs Jahre her, dass Maria und Josef mit ihrem neugeborenen Sohn Jesus vor dem König Herodes nach Ägypten geflohen waren. Hier warteten sie ab, bis in Israel ein anderer König an die Macht kam.
"Aber ich will nicht wegziehen", maulte Jesus. "Wir sind hier zu Hause."
"Ja, ich weiß. Aber du bist der einzige, der die Sprache gut kann. Du bist der einzige, der hier Freunde hat. Papa und ich kommen hier nicht klar. Wir müssen wieder nach Nazareth."
Jesus nickte nachdenklich, stand auf und ging zur Tür. "Ich gehe spielen." - "Bevor es dunkel wird, bist du aber wieder zurück", mahnte Maria.
Die Sonne stand tief am Horizont und glühte wie ein Feuerball. Jesus war noch immer nicht zurück. Maria machte sich auf den Weg, ihn zu suchen. Nicht, dass sie sich Sorgen machte. Jesus kannte sich auch in den Dünen vor dem Haus bestens aus. Aber vor Einbruch der Dunkelheit sollte er doch zurück sein. Im Spiel vergaß er häufig die Zeit.
"Jesus, Jesus, kommst du endlich!", rief Maria so laut sie konnte. Schließlich vernahm sie seine Stimme. Sie stieg auf eine kleine Düne und sah einen Dornbusch, der dort lag. Die glutrote Sonne stand genau hinter dem Busch, so dass es aussah, als würde er brennen.
Maria war fasziniert. Der Anblick erinnerte sie an die Geschichte von Mose. Sie ging auf den Busch zu. Da hörte sie eine ihr wohl vertraute Stimme: "Mose, Mose, tritt nicht herzu. Zieh deine Schuhe aus, denn du stehst auf heiligem Land." Maria zog unwillkürlich ihre Sandalen aus. "Höre", tönte die Kinderstimme weiter, "ich bin der Gott deiner Vorfahren. - Du musst jetzt dein Gesicht verhüllen." Maria tat, wie ihr geheißen war. Denn das hatte auch Mose getan, aus Furcht, Gott anzuschauen. Dann fuhr die Kinderstimme fort: "Ich habe das Elend meines Volkes gesehen. Ich bin gekommen, es aus Ägypten herauszubringen und in ein gutes, weites Land zu führen, in dem Milch und Honig fließen. Du, Mose, sollst mein Volk aus Ägypten führen."
Maria schwieg. "Du musst jetzt widersprechen", ordnete die Kinderstimme an.
"Wer bin ich, dass ich das Volk führen soll? Wie soll ich das machen?", fragte Maria.
"Ich werde mit dir sein."
"Aber sie werden mir nicht glauben. Was soll ich sagen, wenn sie mich fragen, wer mich geschickt hat?"
"Gott, der Herr. Erzähl ihnen von mir."
Nun war die Sonne so weit gesunken, dass Maria das Gesicht von Jesus hinter dem Dornbusch sehen konnte. "Gut", sagte sie, "mache ich. Können wir jetzt gehen?" - "Ich glaube, wir können bald nach Nazareth aufbrechen", sagte Jesus zuversichtlich. Maria nahm Jesus gerührt an der Hand und machte sich auf den Weg nach Hause.
Dort angekommen erzählte sie Josef, was Jesus gespielt hatte. "Er kennt die Geschichte von der Berufung Mose Wort für Wort. Wie oft hast du ihm diese Geschichte schon erzählt?" Josef sah nachdenklich auf seinen Sohn, der ihn spitzbübisch angrinste. Dann murmelte Josef: "Diese Geschichte hab ich ihm noch nie erzählt."
(Zu 2. Mo 3,1-13) Frithjof Grabe
Jesus und der Auszug aus Ägypten
Klimpernd fielen die Münzen aus dem Lederbeutel in die kleine Schale. "Das reicht zum Sattessen!", rief Josef. "Fünf Tage Arbeit, das hatte ich schon lange nicht mehr." - "Da können wir gleich morgen auf den Markt", freute sich Maria. Der sechsjährige Jesus spielte in der Ecke mit den Holzfiguren, die ihm sein Vater geschnitzt hatte. "Können wir dann dieses Jahr das Passahfest feiern?", fragte er. "Zumindest ungesäuertes Brot können wir kaufen", versprach ihm Maria.
Am nächsten Tag ging die ganze Familie über den Markt. Sie bestaunte die vielen Dinge, die es zu kaufen gab. Jesus blieb an einem Stand stehen, an dem es allerlei Spielzeug gab. Gerne hätte er etwas davon gehabt. "Komm weiter, Jesus, das können wir uns nicht leisten", drängte Maria. Nur ungern riss sich Jesus los.
Ein paar Stände weiter gab es Brotfladen aus ungesäuertem Teig. Es war Jesus, der mit dem Händler feilschen musste. Aus seiner Familie beherrschte nur er die Sprache der Ägypter.
"Wozu braucht ihr das Brot?", fragte der Händler. "Seid ihr Juden? Die kaufen gerade alle das ungesäuerte Brot. Sieben Silberstücke." - "Es ist ja auch das Passahfest. Da brauchen wir das. Drei Silberstücke", antwortet Jesus. "Aha. Und was feiert ihr da? Sechs Silberstücke." - "Wir feiern den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Gott trug den Israeliten auf, ungesäuertes Brot und gebratenes Lamm zu essen und sich bereit zu machen für den Aufbruch. Vier Silberstücke." - "Aha. Und warum hat das euer Gott getan? Fünf!", erwiderte der Händler und richtete die Brote, als ob der Handel schon beschlossene Sache wäre. "Alle, die den Auftrag befolgten, verschonte Gott vor der schlimmsten der zehn Plagen. Und er behütete sie auf dem Weg vor Gefahren. Vier!", erklärte Jesus. "Was, nur vier? Du kommst mir gar nicht mehr entgegen." Der Händler sah Jesus verblüfft an. "Ja, vier. Bitte. Wir haben nicht mehr.", bettelte Jesus. "Na schön, Kleiner." Der Händler kassierte das Geld und gab Maria die Brote. "Den Rest des Geldes brauchst du fürs Lammfleisch, nicht wahr?", fuhr der Händler fort. "Das ist doch auch nötig für eure Feier." Jesus nickte. "Hast du Lammfleisch?" - "Nein, ich bin Bäcker. Aber heute Nachmittag schlachten wir bei uns im Hof. Wenn ihr wollt, bekommt ihr ein Stück Fleisch ab. Für 10 Silberstücke."
Jesus sah in den Geldbeutel und erwiderte Josefs fragenden Blick mit einem begeisterten Strahlen. Dann sagte er flehend zum Händler: "Vier." Der seufzte: "Na schön, vier." Er hielt die Hand auf und Jesus zählte ihm die Münzen hinein.
"Wenn ihr den Auszug eures Volkes aus Ägypten feiert, warum seid ihr dann hier in Ägypten?", wollte der Händler wissen. "Wir sind nicht freiwillig hier. Meine Eltern sind vor Herodes geflohen, weil der alle kleinen Kinder töten ließ. Jetzt warten wir, bis wir wieder zurück können", antwortete Jesus. "Na, dann hab ich eine gute Nachricht für euch: Herodes ist seit ein paar Wochen tot. Also, bis heute Nachmittag", sagte der Händler und wendete sich dem nächsten Kunden zu.
Jesus drehte sich freudestrahlend zu seinen Eltern. "Heute Nachmittag bekommen wir ein Stück Lammfleisch. Dann können wir richtig Passah feiern", sagte er und drückte Josef den leeren Geldbeutel in die Hand. "Aber Jesus, das viele Geld nur für das Passahfest?" protestierte Josef.
"Das ist schon gut so. Ihr werdet sehen, das wird das schönste Passahfest eures Lebens", lachte Jesus und hüpfte davon. "Und nach dem Fest machen wir uns auf den Weg nach Hause." Aber das dachte er nur. Diese Überraschung wollte er erst am Abend verkünden.
(Zu 2. Mo 14,19-31) Frithjof Grabe
Jesus und das rote Meer
Ein letztes Mal schloss Josef die knarzende Haustüre hinter sich. "So, nun können wir gehen", sagte er in freudiger Erwartung. Nachdem sie sechs Jahre in Ägypten gelebt hatten, konnten sie wieder in die alte Heimat Israel zurück. Nur Jesus stand sehnsüchtig vor dem Haus. Schon jetzt vermisste er seine Freunde. Aber es half nichts. König Herodes war tot. Sie mussten jetzt keine Angst mehr vor ihm haben. Die Eltern wollten nach Hause.
Jesus drehte sich noch oft um und schaute zurück zum Dorf, in dem er bisher gelebt hatte. Dann konnte er es nicht mehr sehen und es wurde einsam um sie. "Woher weißt du, welchen Weg wir gehen müssen?", fragte Jesus. "Wir folgen den Spuren der Karawanen. Die führen uns nach Sukkot", antwortete Josef mit übertrieben sicherem Ton. "Dort werden wir uns einer Karawane anschließen." Als er Jesu zweifelnden Blick sah, setzte er hinzu: "Hab keine Angst. Wir haben den Weg hergefunden, wir kommen auch wieder zurück." - "Zur Not wird Gott uns führen", ergänzte Jesus und fragte: "Gehen wir auch durch das Rote Meer?" - "Nein, das wäre ein riesiger Umweg." - "Warum hat Mose dann das Volk Israel dort hin geführt?" - "Das Volk Israel war auf der Flucht. Die 10. Plage hatte den Pharao dazu gebracht, die Israeliten fortziehen zu lassen. Hals über Kopf sind sie los. Aber bald schon hat der Pharao das bereut. Er ist mit seinem Heer hinterher. Und mit den Streitwagen waren sie natürlich viel schneller. Die Israeliten liefen so schnell sie konnten. Sie hatten keine Zeit, nachzudenken."
Unwillkürlich drehte sich Jesus um. Einige Gestalten waren hinter ihnen. "Wenn das Räuber sind, die uns überfallen wollen", überlegte er. Laut sagte er: "Aber Gott hat eine Wolkensäule geschickt und ihnen den Weg gezeigt." - "Richtig", antwortete Josef. "Und so kamen sie an das Rote Meer. Dort ging es nicht weiter. Vor ihnen das Meer, hinter ihnen das Heer der Ägypter. Was sollte man da machen?" Jesus nahm die Hand seines Vaters und sah nach hinten. Die Gestalten hatten ein gutes Stück aufgeholt. Jesus ging schneller und zog Josef mit. "Was rennt ihr denn so?", fragte Maria.
Hinter der nächsten Wegbiegung endete der Weg jäh. Große Felsbrocken und Geröll waren einen Abhang herabgestürzt und hatten den Weg verschüttet. "Oh je, was machen wir jetzt?", Maria klang sorgenvoll. "So ein Ärger. Jetzt müssen wir zurückgehen und einen anderen Weg suchen", seufzte Josef. Er setzte sich auf einen der Felsbrocken.
"Und wie ging es mit den Israeliten weiter?", fragte Jesus. "Mose stellte sich vor das Meer und streckte seine Hand aus. Da schickte Gott einen starken Ostwind, der das Wasser zurückdrängte. Als die Ägypter schon in Sichtweite waren, liefen die Israeliten schnurstracks über den Meeresboden. Die Ägypter natürlich hinterher. Doch deren Wagenräder sanken im schlammigen Boden ein. Sie kamen nicht vorwärts. Als die Israeliten das andere Ufer erreichten, ließ Gott den Wind abflauen und das Wasser kam zurück. Es spülte das Heer der Ägypter einfach weg und das Volk Israel war frei."
Jesus dachte an die Männer, die hinter ihnen näher kamen. Was würde geschehen, wenn das tatsächlich Räuber waren? Er überlegte, ob Gott nicht auch schnell die Felsen aus dem Weg räumen könnte, damit sie weitergehen konnten. Er stellte sich vor die Felsbrocken und hob gebieterisch die rechte Hand. In diesem Augenblick kamen die Gestalten um die Kurve. Es waren fünf Männer, die dicke Stöcke in den Händen trugen. "Guten Tag", sagte einer von ihnen. "Da kommen wir wohl gerade richtig. Man hat uns geschickt, die Felsen aus dem Weg zu räumen."
(Zu 2. Mo 14,19-31) Frithjof Grabe