Engel haben Flügel
Die
Kinder drehen sich zu mir um, als ich die schwere Türe aufdrücke und zu
ihnen herauskomme. Sie warten mit ihrer Lehrerin auf mich. Ich darf die
Schulklasse durch den Erlebnis-Adventsweg führen.
Die Kinder sehen mich erstaunt, interessiert und manche respektvoll an.
"Grüß
Gott!" sage ich. "Ich freue mich, dass ich euch auf eurem ganz
persönlichen Weg nach Bethlehem führen darf. Darf ich mich vorstellen:
mein Name ist Gabriel! Ich bin der Engel, den Gott zu Maria schickte und
ich kann euch eine ganze Menge über Weihnachten erzählen."
Meine
Kleidung gibt meinem Auftritt als Engel das notwendige Äußere: Ein
weites, weißes Gewand mit silbernen Stickereien an den Ärmeln und ein
goldener Umhang verleihen mir die Würde, die man als Engel braucht.
"Wo hast du denn deine Flügel?" will ein Kind wissen.
"Engel haben keine Flügel" antworte ich. "Engel sind Boten Gottes. Sie brauchen keine Flügel um ihre Aufgabe zu erfüllen."
"Doch! Engel haben Flügel. In meiner Bibel haben sie alle Flügel."
"Ja,
auf Bildern werden sie immer mit Flügeln dargestellt," antworte ich. "
Damit man sie auch als Engel erkennt. Aber in Wirklichkeit haben sie
keine Flügel."
Das Kind erwidert nichts und ich führe die Gruppe in
die Unterkirche der Stadtkirche, wo der Weg nach Bethlehem in 11
eindrücklichen Stationen dargestellt ist.
Ich lasse sie einen ehrfurchtsvollen Blick in den Thronsaal des Kaiser Augustus werfen und gebe ihnen die Möglichkeit, das Leben der Ärmsten der Armen erfahren.
An
der dritten Station zeige ich ihnen die Kammer der Maria, in der ich -
der Engel Gabriel - der Jungfrau die Empfängnis verkündete.
Ich will
gerade die Kinder einladen, die Kammer zu betreten und an Marias Betbank
ein kleines Gebet zu sprechen, da fragt das Engel-haben-Flügel-Kind:
"Woran hat Maria denn erkannt, dass du ein Engel bist und nicht ein
böser Räuber, der sie überfallen will?"
"Hat sie nicht gleich
erkannt!" meine ich. Auf diese Frage bin ich vorbereitet, denn ich
glaube tatsächlich, dass Maria zunächst nicht gewusst hat, wer das ist,
der da vor ihr steht.
"Deshalb hat sie mich auch gleich rausgeworfen," sage ich.
Das
Kind schüttelt den Kopf. "Ich glaube, Gott hat hier einen Fehler
gemacht. Hätte er einen Engel mit Flügeln geschickt, wäre ihr das sofort
klar gewesen."
"Dann hätte Maria aber nicht so sehr über meine Worte
nachgedacht, weil sie gleich gedacht hätte: hui ein Engel," antworte
ich spontan. Die Antwort finde ich sehr überzeugend.
Das Kind macht aber einen unzufriedenen Eindruck. Es sieht mich die ganze Zeit nachdenklich an.
Ich führe die Gruppe zur Station mit den Gesetzen und Geboten, wo sie sich in eine Liste eintragen dürfen und dann zu dem Fühlparcour, auf dem sie den harten Weg von Nazareth nach Bethlehem nachempfinden können, auf dem Maria und Josef doch so behütet waren. Alle Kinder laufen den Parcour begeistert mehrmals.
Nur das Engel-haben-Flügel-Kind fragt: "Musstest du auch von Nazareth nach Bethlehem?"
"Ja!" antworte ich. "Ich hatte dort noch zu tun!"
"Hat Gott dich auf dem Weg auch behütet? Oder bist du geflogen?" fragt das Kind.
"Ich kann nicht fliegen!" sage ich geduldig.
"Wäre aber einfacher gewesen!" sagt das Engel-haben-Flügel-Kind. Kinder sind manchmal etwas penetrant.
Nun besuchen wir das Wirtshaus des unfreundlichen, fremdenfeindlichen Wirts, der Maria und Josef abgewiesen hat.
Alle Kinder machen es sich in der gemütlichen Wirtsstube bequem.
Das
Engel-haben-Flügel-Kind fragt: "Warum hast du Maria und Josef nicht
begleitet. Dann hättest du als Engel den Wirt überreden können, sie
aufzunehmen."
"Ich bin hier auch fremd. Mich hätte der Wirt auch
abgewiesen. Er hätte ja nicht gewusst, dass ich ein Engel bin,"
argumentiere ich.
"Wenn du Flügel hättest, schon!" sagt das Kind
trocken und ich beginne zu überlegen, ob es so schlau war, vor dieser
Gruppe als Engel zu erscheinen. Vielleicht hätte ich besser als Hirte
auftreten sollen.
Ich führe sie weiter. Schließlich sind wir an der Station angelangt, in welcher der Ort dargestellt ist, an dem ich - der Engel Gabriel - den Hirten die frohe Botschaft überbracht habe.
Ich
berichte von der großen Angst, die ich vor den schroffen, ungehobelten
Hirten hatte. Wenn sie mir nicht geglaubt hätten, dann hätten sie mich
wohl übel zugerichtet.
Um irgendwelchen Einwänden des
Engel-haben-Flügel-Kindes zuvorzukommen ergänze ich: "Mit Flügeln wäre
das natürlich einfacher gewesen. Dann hätte ich nicht so viel Angst zu
haben brauchen."
"Das wäre gar nicht gut gewesen!" schüttelt das Engel-haben-Flügel-Kind energisch den Kopf. "Dann hätten die Hirten gedacht, du bist der Retter und hätten dich angebetet. Was sollen die denn von so einem kleinen Baby halten, wenn du vorher mit goldenen Flügeln vor ihnen herumtanzt."
Aha, denke ich frohlockend, die Botschaft ist angekommen.
Schließlich erzähle ich an der vorletzten Station davon, was für ein großes Geschenk Jesus für alle Menschen war. Darum schenkt man sich zu Weihnachten gegenseitig etwas.
Nun dürfen sich alle überlegen, was sie dem Jesuskind im Stall als Geschenk mitbringen möchten. Ihr Geschenk schreiben oder malen sie auf einen farbigen Klebezettel, denn sie dann zur letzten Station mitnehmen. Auch das Engel-haben-Flügel-Kind macht sich ans Werk und schreibt ein Geschenk auf.
In der letzten
Station, dem Stall, heften wir dann die Klebezettel an die Wand.
Andächtig stehen die Kinder vor der Krippe. Dann verabschiede ich mich
von ihnen. Im Hinausgehen werfe ich verstohlen einen Blick auf das
Geschenk des Engel-haben-Flügel-Kindes:
Es schenkt dem Jesuskind: "Einen Engel mit Flügeln"